Was gibt es schöneres als einen gemütlichen Spaziergang? Richtig, einen volltrunkenen Spaziergang. Nachts.
Die Partynacht kriecht sich dem Ende entgegen. Zusammen mit den übrig gebliebenen Gefährten buckelt man aus der Disko und plötzlich überkommt einen der unbändige Drang spazieren zu gehen. Der urzeitliche Trieb der Wanderlust setzt ein.
"Sollen wa Taxi fahren?"
"SCHEIß DRAUF, ICH LAUFE! Ist doch hier umme Ecke"
Auf einmal ist keine Distanz zu weit - kein Feldweg zu dunkel. Der betrunkene Größenwahn hat eindeutig seinen Zenit erreicht. LET'S MOVE OUT.
Zunächst stolziert man voller Elan in die Dunkelheit, doch spätestens nach einigen hundert Metern bereut man seine Entscheidung und sehnt sich nur noch nach einer warmen Kuscheldecke. Der Spaziergang wird zunehmenst zum Martyrium und man schlendert wie ein angeschossener Elch Punkt B entgegen.
Die ersten paar hundert Meter |
Die übrigen zig Kilometer |
Auch mich überfiel eines Abends der Durst nach Flanieren. Wir häuften uns zu einigen Dutzend im Pulp an aber irgendwie war ich schon den ganzen Tag anti. Menstruale Beschwerden, oder so. Jedenfalls wurde es mit steigendem Pegel nur noch schlimmer. Ja, es war einer DIESER Abende. Ich tue also nichts anderes als zwischen den verschiedenen Theken hin und her zu pendeln - plötzlich finde ich mich draußen wieder, mit dem Jackett in der Hand. Ich bin doch tatsächlich auf eigene Faust, ohne Tschüss zu sagen, abgehauen. Was ein Haufen Scheiße. Ich ekle mich vor mir selbst und werde immer wütender. Irrational oder nicht, beschließe ich NICHT mit dem Taxi zu fahren, da ich mich nun selbst bestrafen muss. Jap, ergibt hundertprozentig Sinn.
Ich marschiere also los. Nach einigen Minuten erst stelle ich mir die nebensächliche Frage, wohin ich eigentlich laufe. Ich hab keinen blassen Schimmer, wie ich nach Hause kommen soll, erkenne aber den grün-leuchtenden Stadtwerke-Turm am Horizont. Dieser soll mir von nun an als Orientierungspunkt dienen. Ich mache eine Kehrtwende und spaziere meinem Leuchtturm entgegen. Unweit vom Turm passiere ich die berühmte Duisburger Puff-Meile. Diese ist zu dieser späten Stunde voller Leben. Die Scheiße zieht die Fliegen halt an. Zwielichtige , asoziale Gestalten überall. Normalerweise würde der nüchterne Andy einen großen Bogen drum machen aber ich bin immer noch auf Selbstbestrafungs-Kurs und manövriere direkt in's Kümmel-Getümmel.
Nach wie vor stinksauer über den Verlauf des Abends stolziere ich durch das Freier-Meer und schaue jedem Einzelnen hasserfüllt in die Augen. Ein Wunder, dass ich an diesem Abend kein Klappmesser in's Kreuz bekomme. Was für ein Ol' Dirty Bastard.
Die Strecke fängt an sich zu ziehen und zum ersten Mal hinterfrage ich meine Strategie: "Soll ich nicht vielleicht doch ein Taxi holen?". Nein! Ich muss standhaft bleiben. "Für Sparta", rede ich mir die ganze Zeit über ein. Weiter geht's. Mittlerweile ist meine Stimmung von aggressiv zu melancholisch umgeschwenkt. Auf der Rhein-Brücke angekommen halte ich kurz inne. Ich starre das schwarze Wasser unter mir an und stelle mir Fragen nach dem Sinn des Lebens und so weiter.
Kurze Phase des Grübelns |
Hier ist es allerdings viel zu windig, also mache ich mich wieder auf
den Weg. Die Beine werden langsam schwer, ich muss mich konzentrieren.
Links, rechts, links, dann wieder rechts. Schritt für Schritt. Die letzten Stunden und Kilometer ziehen sich qualvoll in die Länge. Hin und wieder muss ich rasten und setze mich auf Eingangstreppen von Wohnungen. Inzwischen regnet es und meine Klamotten sind komplett durchnässt. Zu allem Überfluss trage ich Boots, die einen kleinen Absatz haben. Meine Füße danken es mir mit kurzzeitigen Krämpfen. Ich gehe weiter, denn ich habe hier eine Mission zu erfüllen. Unterwegs lasse ich einige Taxen links liegen. Wenn ich jetzt aufgebe, war all der Kampf umsonst.
Nach der Phase der Melancholie kommt die Phase der Leere. Empfindungslose Akzeptanz. Ich laufe nur noch auf Sparflamme im Autopilot. Meter für Meter. Jeder Schritt ist ein kleiner Erfolg. Ich male mir aus, wie schön es wäre jetzt im warmen Schoße des heimischen Bettes zu liegen. Schüttelfrost-Attacken durchblitzen meinen Körper wie kleine stechende Laser und die Unterlippe zittert. Nur noch einige Kilometer.
Kein wirklicher Trost.
Langsam geht die Sonne auf und ich beobachte das Schauspiel. Mittlerweile bin ich beinah nüchtern und mir wird klar, dass ich es tatsächlich fast geschafft habe. Ich laufe einen Seitenweg einer Schnellstraße entlang und habe eine wunderschöne Aussicht auf ein mit goldenem Licht getränktes Mais-Feld. Nach der Phase der Leere kommt die Phase der Dankbarkeit. Ich fühle mich als hätte ich den Iron Man überstanden. Joey Kelly pass auf, ich komme. Die stundenlange Anstrengung schlägt allmählich in Glücksgefühle um. Katharsis. An der Haustür angekommen lache ich leise vor mich hin und stelle mir vor wie wütend ich in's Bett gegangen wäre, wenn ich tatsächlich Taxi gefahren wäre. Es ist 6 Uhr morgens. Ich habe etwas mehr als vier Stunden gebraucht, aber ich bin glücklich. Auch du verrückter Lumpi, gute Nacht.
Geschafft! |
Am nächsten Morgen schaue ich mir die Route, die ich gelaufen bin zusammen mit meinem Cousin Massimo auf Google Maps an. Es stellt sich raus, dass ich einen Umweg von knapp 5 Kilometern gelaufen bin. Ich muss mich beinahe übergeben. Massimo lacht mich ca. 20 Minuten lang aus.
Der Pfad der Erleuchtung. In blau die vorgeschlagene optimale Strecke von Google Maps. In pink meine tatsächliche Route |